Der Westen und das Erstarken totalitärer Regimen -Dem Club der Bösen die Stirn bieten

Die Befähigung zur Wehrhaftigkeit setzt funktionstüchtige Armeen voraus. Schon nach der Wiedervereinigung schraubte die Bundesrepublik als erstes die Verteidigungsausgaben zurück - von fast drei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu Zeiten des Kalten Krieges auf unter zwei Prozent im Haushalt für das Jahr 1992. Damals war übrigens Helmut Kohl Kanzler. Zuletzt dümpelte der Wehretat jahrelang unter 1,5 Prozent des BIP.

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Die EU muss wehrhafter werden, um den Autokraten etwas entgegenzusetzen. Das Blockdenken ist zurück.

Putin und Xi Jingping: Russland und China sind die Anführer eines neuen autokratischen Blocks, der den Westen herausfordert.
Putin und Xi Jingping: Russland und China sind die Anführer eines neuen autokratischen Blocks, der den Westen herausfordert.FOTO: ALEKSEY DRUZHININ VIA REUTERS

Günther H. Oettinger ist Präsident von United Europe e.V. und Geschäftsführer der Unternehmensberatung Oettinger Consulting GmbH in Hamburg.

“Heute Nacht sind wir das glücklichste Volk der Welt.” Das sagte Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper nach dem Mauerfall am 9. November 1989. Dieses Datum steht, zusammen mit der Wiedervereinigung ein Jahr später, in Deutschland und weltweit für eine Zeitenwende: das Ende des Kalten Kriegs zwischen Ost und West.

Das „Reich des Bösen“, wie der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1983 die Sowjetunion genannt hat, zerfiel. Viele Staaten des früheren Warschauer Pakts suchten Schutz in der Nato und der Europäischen Union – für sie ein Garant des Friedens und Wohlstands. Inzwischen hat das Böse wieder einen Namen: Wladimir Putin.

Diese Zeitenwende ist eine Rolle rückwärts

Am 24. Februar begann Russlands Präsident seinen brutalen, völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine. Wieder erlebt die Welt eine Zeitenwende, diesmal eine dramatische Rolle rückwärts.

Die geopolitische Konstellation ist geprägt vom Kampf der Diktatoren und Autokraten gegen das westliche Modell von Demokratie und Freiheit. Zu besichtigen ist eine Gegenrevolution totalitärer Regime, die in westlichen Werten wie Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und freier Meinungsäußerung eine Bedrohung sehen.

Dies ist ein Beitrag der Reihe Global Challenges, einer Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Neben Günther H. Oettinger sind regelmäßige Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Das Böse hat sogar einen eigenen Club: Neben Russland versammeln sich darin jene Staaten, die in der UN-Vollversammlung Anfang März gegen eine Verurteilung des Angriffskriegs stimmten: Belarus, Nordkorea, Syrien und Eritrea. Westliche Medien bilanzierten erleichtert, nur diese vier Schurkenstaaten unterstützten Russlands Aggression. Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

35 Staaten enthielten sich in der Abstimmung der Stimme, darunter 17 afrikanische Länder, fast alle über das Infrastrukturprojekt „Neue Seidenstraße“ mit China wirtschaftlich eng verbunden. Auch die zwei Demokratien Indien und Südafrika fanden sich, ebenso wie China, nicht zu einer Verurteilung des Angriffskriegs bereit. Insgesamt repräsentieren diese Länder die Hälfte der Weltbevölkerung.

Bezeichnend ist auch das jüngste Votum über eine Resolution in der UN-Vollversammlung, bei dem es um Russlands Ausschluss aus dem Menschenrechtsrat ging. Die Resolution wurde zwar angenommen, allerdings gegen den Widerstand von 24 Ländern, darunter China, Iran und Vietnam. Außerdem gab es 58 Enthaltungen, zum Beispiel von so wichtigen Staaten wie Indien, Brasilien, Südafrika, Mexiko, Indonesien, Malaysia und Thailand.

Auch China ist eine sicherheitspolitische Bedrohung

Über Putins Krieg in Europa sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass auch von China eine zunehmende sicherheitspolitische Herausforderung für Europa und den Westen ausgeht. Die strategische Partnerschaft zwischen China und Russland, von den Präsidenten Xi Jinping und Putin kurz vor dem russischen Einfall in die Ukraine bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking öffentlichkeitswirksam zelebriert, beinhaltet nicht nur Moskaus Anspruch auf die Ukraine.

Sie beinhaltet auch Pekings Anspruch auf die „abtrünnige Provinz“ Taiwan, der in der „Gemeinsamen Erklärung“ vom 4. Februar 2022 von Moskau bestätigt wurde. Putin lehnt jede Form der Unabhängigkeit Taiwans ab und leistet damit einer möglichen Aggression Chinas Vorschub. Gemeinsam verwerfen Moskau und Peking westliche Werte. Xi betont ja gerne, einige Länder hätten an westlichen Werten „furchtbaren Schaden genommen“. Was er damit meint, sind beispielsweise Minderheitenrechte und Pressefreiheit.

Wie „Schadensbehebung“ à la Xi geht, ist in Hongkong oder den Umerziehungslagern für Uiguren, Kasachen und anderen Ethnien in der chinesischen Provinz Xinjiang zu besichtigen. Es gilt zu beobachten, ob China ein Schutzpatron des Clubs des Bösen wird. Ein Lackmustest dafür ist heute die Ukraine. Und morgen Taiwan?

Die Europäische Union muss geopolitischer agieren

Angesichts dieser Konstellation ist eine geopolitisch agierende Europäische Union das Gebot der Stunde. Wir brauchen eine gemeinsame Armee. Wichtig wäre es, in diese Armee nukleare Möglichkeiten einzubauen, also Frankreichs Force de Frappe. Strategien für einen künftigen Cyberkrieg sollten ebenfalls europäisch entwickelt werden, unter Rückgriff auf die eigenen Spitzentechnologien.

Um dem Ziel der „Weltpolitikfähigkeit“ näher zu kommen, muss sich die EU in Fragen der Außenpolitik endlich vom Prinzip der Einstimmigkeit verabschieden und Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit treffen können. So käme auch ein europäischer Außenminister in Reichweite.

Die Nato hat sich bislang bei der Unterstützung der Ukraine gegen Putins Angriffskrieg als Bündnis bewährt – nicht zuletzt dank US-Präsident Joe Biden. Allerdings: Bei der nächsten Präsidentschaftswahl ist ein Comeback von Donald Trump oder einer seiner national-populistischen Epigonen nicht auszuschließen. Für die USA könnte die Nato dann schnell wieder „obsolet“ werden. Auch deshalb müssen Europa und insbesondere die EU eigene militärische Stärke entwickeln.

Das Blockdenken ist zurück

Die Befähigung zur Wehrhaftigkeit setzt funktionstüchtige Armeen voraus. Schon nach der Wiedervereinigung schraubte die Bundesrepublik als erstes die Verteidigungsausgaben zurück – von fast drei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) zu Zeiten des Kalten Krieges auf unter zwei Prozent im Haushalt für das Jahr 1992. Damals war übrigens Helmut Kohl Kanzler. Zuletzt dümpelte der Wehretat jahrelang unter 1,5 Prozent des BIP.

Es herrschte ein naiver Glaube an das Gute, von „Friedensdividende“ war die Rede. Deshalb ist die Ankündigung von Kanzler Olaf Scholz, nun für Verteidigung jährlich zwei Prozent des BIP und zusätzlich 100 Milliarden Euro aus einem „Sondervermögen“ investieren zu wollen, richtungsweisend und überfällig.

Am 27. Februar kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an.
Am 27. Februar kündigt Bundeskanzler Olaf Scholz 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an.FOTO: IMAGO IMAGES/BILDGEHEGE

Die scheinbare Überwindung des Blockdenkens ist seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine endgültig Vergangenheit. Keine Frage: Jahrzehntelang haben Deutschland und die EU von ihrer geopolitischen Naivität wirtschaftlich profitiert. Billiges Gas aus Russland hat nicht nur geholfen, Deutschlands Industrie zum Export-Weltmeister zu machen.

Die Gewinne haben auch zum Ausbau des Sozialstaates beigetragen. Das muss man mitdenken, auch wenn der Ruf nach einem Gas-Embargo gegen das Land des Kriegsverbrechers immer lauter wird. Natürlich schmerzt jeder Euro, den man an Putins Regime zahlt. Aber muss man im Sinne einer „moralischen Läuterung“ wirklich eine tiefe Rezession riskieren? „Wollen wir sehenden Auges unsere ganze Volkswirtschaft zerstören?“, fragt BASF-Chef Martin Brudermüller.

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Unterdessen wartet China offenbar erst einmal ab, wie der Krieg in der Ukraine für Putin und die russische Wirtschaft ausgeht. Wir Europäer müssen diese Zeit nutzen, um sowohl wirtschaftlich als auch militärisch wehrhafter zu werden. Nur so können wir dem Club des Bösen die Stirn bieten.


The West and the rise of totalitarian regimes
Standing up to the club of the bad guys


The EU must become more defensible to counter the autocrats. Bloc thinking is back. A guest commentary. GÜNTHER H. OETTINGER

Günther H. Oettinger is president of United Europe e.V. and managing director of the management consultancy Oettinger Consulting GmbH in Hamburg.

“Tonight we are the happiest people in the world.” So said Berlin’s Governing Mayor Walter Momper after the fall of the Berlin Wall on November 9, 1989. This date, together with reunification one year later, stands for a turning point in Germany and worldwide: the end of the Cold War between East and West.

The “evil empire,” as then U.S. President Ronald Reagan called the Soviet Union in 1983, disintegrated. Many states of the former Warsaw Pact sought protection in NATO and the European Union – for them a guarantor of peace and prosperity. Meanwhile, evil has a name again: Vladimir Putin.

This turn of events is a roll backwards


On February 24, Russia’s president began his brutal invasion of Ukraine in violation of international law. Once again, the world is experiencing a turning point, this time a dramatic role backwards.

The geopolitical constellation is characterized by the struggle of dictators and autocrats against the Western model of democracy and freedom. On display is a counter-revolution of totalitarian regimes that see a threat in Western values such as the rule of law, parliamentarism and freedom of expression.

This is a contribution to the Global Challenges series, a DvH Media brand. The new institute aims to advance the discussion of geopolitical issues through publications by recognized experts. In addition to Günther H. Oettinger, regular authors include Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup and Prof. Dr. Renate Schubert.

Evil even has its own club: In addition to Russia, it includes those states that voted against condemning the war of aggression at the UN General Assembly in early March: Belarus, North Korea, Syria and Eritrea. Western media were relieved to report that only these four rogue states supported Russia’s aggression. But that is only half the truth.

35 states abstained from the vote, including 17 African countries, almost all of which have close economic ties with China via the “New Silk Road” infrastructure project. The two democracies India and South Africa, like China, were also unwilling to condemn the war of aggression. Altogether, these countries represent half of the world’s population.

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Also significant is the recent vote on a resolution in the UN General Assembly concerning Russia’s exclusion from the Human Rights Council. The resolution was adopted, but against opposition from 24 countries, including China, Iran, and Vietnam. There were also 58 abstentions, for example, from such key countries as India, Brazil, South Africa, Mexico, Indonesia, Malaysia and Thailand.

China is also a security threat


Over Putin’s war in Europe, it should not be forgotten that China also poses an increasing security challenge to Europe and the West. The strategic partnership between China and Russia, celebrated in public by Presidents Xi Jinping and Putin shortly before Russia’s incursion into Ukraine at the opening of the Beijing Olympics, involves not only Moscow’s claim to Ukraine.

It also includes Beijing’s claim to the “breakaway province” of Taiwan, reaffirmed by Moscow in the February 4, 2022 “Joint Declaration.” Putin rejects any form of independence for Taiwan, thereby encouraging possible aggression by China. Together, Moscow and Beijing reject Western values. Xi likes to emphasize that some countries have suffered “terrible damage” to Western values. What he means by this is, for example, minority rights and freedom of the press.

How “damage repair” à la Xi works can be seen in Hong Kong or the re-education camps for Uyghurs, Kazakhs and other ethnic groups in the Chinese province of Xinjiang. It is worth watching whether China becomes a patron saint of the club of evil. A litmus test for this is Ukraine today. And tomorrow Taiwan?

On Feb. 27, Chancellor Olaf Scholz announces 100 billion euros for the Bundeswehr.


The apparent overcoming of bloc thinking has finally been a thing of the past since Russia’s invasion of Ukraine. There’s no question about it: for decades, Germany and the EU have benefited economically from their geopolitical naiveté. Cheap gas from Russia not only helped make Germany’s industry the world’s leading exporter.

The profits have also contributed to the expansion of the welfare state. This must be taken into account, even if calls for a gas embargo against the war criminal’s country are growing louder. Of course, every euro paid to Putin’s regime hurts. But in the spirit of “moral purification,” is it really necessary to risk a deep recession? “Do we want to destroy our entire economy with our eyes open?” asks BASF CEO Martin Brudermüller.

Meanwhile, China is apparently waiting to see how the war in Ukraine turns out for Putin and the Russian economy. We Europeans must use this time to become more defensible, both economically and militarily. This is the only way we can stand up to the club of evil.